Allgemeiner Behindertenverband in Deutschland bemängelt drittes Entlastungpaket der Regierung

„Den Erleichterungen fehlt es an Passgenauigkeit und Tiefenwirkung, Behinderte profitieren kaum!“

„Das dritte Entlastungspaket der Bundesregierung spart Menschen mit Behinderung wiederum weitgehend aus und verkennt die Bedürftigkeit und den Mehrbedarf von Personen mit Handicap auf das Schärfste“ – So kommentiert der Sozialberater des ABiD, Dennis Riehle, die geplanten Erleichterungen der „Ampel“-Koalition. „Schon zuletzt wurde diese Personengruppe weitgehend ausgespart und muss nun neuerlich auf Unterstützung in notwendigem Umfang verzichten. Die Vorhaben des Kabinett sind viel zu breit gestreut und verfehlen daher ihre Passgenauigkeit und Tiefenwirkung. Stattdessen werden Gesellschaftsschichten bedacht, die kaum oder keine Hilfe benötigen würden, weil sie über ein ausreichendes Einkommen verfügen, um die Inflation abzufedern“.

Riehle bemängelt insbesondere, dass man auf die Lebenswirklichkeit von behinderten Menschen zu wenig geachtet habe und damit den tatsächlichen Alltagsbedarf von rund zehn Millionen Bundesbürgern kontinuierlich und wiederholt unbeachtet lässt: „Insgesamt erreichen die meisten Nachteilsausgleiche – unabhängig der momentanen Entlastungsprogramme – behinderte Menschen nicht, weil sie in der Regel unter dem Grundfreibetrag liegen und nicht steuerpflichtig sind. Menschen mit Handicap, die von der zuständigen Versorgungsbehörde entsprechend als (schwer-)behindert anerkannt sind, erhalten insbesondere Pauschbeträge in der Einkommenssteuer.

Diese liegen je nach Grad der Behinderung zwischen 384 und 2.840 Euro. Auch können auch die zusätzliche Fahrtkostenpauschale von 30 Cent (bis 20 km) und 35 Cent je Kilometer (ab dem 21. km) beziehungsweise die tatsächlichen Fahrtkosten zur Arbeit für eine Reihe von eigentlich bezugsberechtigten Menschen mit einer Behinderung nicht abgesetzt werden. Diese Vorteile sind für eine große Zahl an behinderten Personen ohne Bedeutung, oftmals sind sie erwerbsgemindert und erhalten derart niedrige Bezüge, dass sie allerhöchstens dann profitieren können, wenn sie neben der Rente auch noch Transferleistungen beziehen. Viele Betroffene wissen nicht, dass sie eventuell noch Aufstockerleistungen beziehen könnten. Sie fallen aufgrund von Unwissenheit schlichtweg durch das System. Man kann auch nicht wirklich von den oftmals mit ihrer eigenen Lebensgeschichte befassten Menschen erwarten, dass sie stets auf dem aktuellen Stand sind, was die derzeitige sozialpolitische Rechtslage ist. Nicht wenige erhalten aufgrund ihrer lebenslangen Beschäftigung in Werkstätten für behinderte Menschen derart wenige Leistungen, dass selbst die niedrigen dreistelligen Entlastungen der Politik nur ein Tropfen auf den heißen Stein wären“, erklärt der 37-Jährige, der seit diesem Jahr die kostenlose ABiD-Sozialberatung leitet.

„Mir werden teils dramatische Szenen beschrieben. Ich erhalte mittlerweile tägliche Mails von behinderten Menschen, die einfach nicht mehr sparen können, weil sie ansonsten tatsächlich hungern müssen, weil sie sich die Lebensmittel nicht mehr leisten können (viele Betroffene rutschen durch die Inflation unter die Armutsgrenze, werden aber beispielsweise bei vielen ‚Tafeln‘ nicht mehr angenommen, weil dort ein Aufnahmestopp verhängt wurde) – oder weil der Strom und das Gas für den Herd zu teuer geworden sind. Nicht wenige Betroffene haben mir berichtet, dass sie für sämtliche Anschaffungen (Nahrung, Kleidung, Hygieneartikel, technische Geräte) insgesamt weniger als 10 EUR pro Tag übrig haben. Viele sind überfordert, einen Antrag auf Sozialleistungen auszufüllen – und die Beratungsstellen sind gerade in den größeren Städten hoffnungslos überlastet. Besonders betroffen machen mich Geschichten von behinderten Menschen, die mit ihren wenigen Habseligkeiten in höherem Alter noch die Wohnung wechseln müssen, weil sie die Miete in ihrem angestammten Zuhause nicht mehr bezahlen können und dann mit 70 oder 80 Jahren einen Umzug organisieren sollen, ohne wirklich zu wissen, ob sie denn die nächste Wohnung (wenn sie denn überhaupt eine finden) länger als ein paar Monate werden nutzen können – ehe dann wieder ein Wechsel ansteht. Sorge macht mir die psychosoziale Situation: Behinderte Menschen, die eigentlich seelisch gesund waren, leiden mittlerweile an manifesten Angststörungen und Depressionen. Und viele von ihnen sind derart hilflos, dass ihnen selbst in diesem Zustand teilweise unmöglich ist, entsprechende Unterstützung aufzusuchen. Ohnehin gilt: Unser Sozialstaat ist zwar einer der besten der Welt und fängt vergleichsweise viel Bedürftigkeit ab. Allerdings ist er sehr kompliziert gestaltet und es ist selbst für mich als gelerntem Sozialberater sehr schwierig, den Paragrafendschungel zu durchblicken und auf dem Laufenden zu sein. Geschweige denn, letztendlich den Überblick über die unterschiedlichen Kosten- und Leistungsträger zu behalten“, meint Dennis Riehle.

Das Entlastungspaket hinterlasse eher den Eindruck, als hätten die Koalitionäre ihrem jeweiligen Klientel angesichts schlechter Umfragewerte und bevorstehender Landtagswahlen Geschenke gemacht, ohne dabei auf die tatsächlichen Bedürfnisse zu achten: „Die Stimme der besonders Schwachen wurde nicht erhört, dabei haben sie die Entlastungen besonders nötig und sind mit einer kleckernden und zaudernden Gießkannenpolitik außen vor. Es braucht vielmehr strukturelle und mittelfristig anhaltende Hilfen, beispielsweise fordern wir die dynamische und zeitnahe Anpassung der Sozialleistungen an die jeweils aktuelle Inflationsrate, wiederholte Einmalzahlungen für nicht steuerpflichtige Personen mit Handicap – beispielsweise durch Auszahlung über die Versorgungsämter der Kommunen, ein sofortiges Moratorium im Blick auf Wohnungskündigungen und Energiesperren bei Mietpreissteigerung oder unbezahlten Strom- und Gasrechnungen, eine Aufstockung der Mittel für die Lebensmittel ausgebenden Hilfsorganisationen und steuerliche Absetzbarkeit von Spenden, bessere personelle Ausstattung der Sozialämter, öffentlicher und verbandsgetragener Beratungsstellen und der aufsuchenden Hilfen sowie niederschwellige und entbürokratisierte Möglichkeiten der Antragsstellung durch barrierefreie und behindertengerechte Ausgestaltung von Formularen“, sagt Riehle und fügt noch an: „Es ist jetzt keine Zeit für Kleinschrittigkeit. Gemäß der Aussagen unseres Kanzlers müssen wir uns unterhaken, zusammenhalten und den großen Wurf wagen. Denn die Situation ist ernst und wir können uns keine parteiliche Profilierung mehr leisten“.

Die Sozialberatung des ABiD ist für jeden Hilfesuchenden bundesweit kostenlos unter Mail: Soziales@ABiD-ev.de.

 

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